Referat ABB-Ingenieurtagung 2022
Smarte Alternative: Sektorkopplung. Wer gibt und wer nimmt Energie?
Liebe Kolleginnen, liebe Freunde der Stromversorgungstechnik, liebe andere Personen, die auch da sind.
Zuerst ein paar Worte zu mir: Markus Gehrig, seit 23 Jahren Inhaber des Ingenieur- und Beratungsbüros MG Power Engineering AG. Stromversorgung beschäftigt mich seit über 30 Jahren. Ich bin für Kunden im Industrie-, Dienstleistungs- und Infrastrukturbereich tätig. Aber auch Elektroplanungsbüros zählen zu meinen Kunden, für die ich Schutzauslegungen, Netz- und Kurzschlussberechnungen sowie Konzeptberatung mache. Daneben bin ich in verschiedenen Normenkommissionen tätig und unterrichte an der IBZ Schutz- und Leittechnik sowie Anlagenbau. An der HSLU bin nebenamtlich Lehrbeauftragter. Ausserdem bin ich noch publizistisch tätig, in dem ich regelmässig für die Fachzeitschrift Elektrotechnik schreibe und den Tech-Blog Power-Affairs.ch herausgebe, auf dem etwa 8 bis 10 Fachaufsätze von mir jährlich erscheinen.
Die Energiewende erfordert erneuerbare Energien, die sind aber teilweise von Wind und Wetter abhängig. Stochastisch sind sie und wurden deshalb Jahrzehnte lang als Flatterstrom verspottet. Das greift natürlich viel zu kurz.
Damit die Energiewende ein schweizerischer Erfolg wird, und davon bin ich fasertief überzeugt, falls sie nicht politisch verhindert wird, müssen die folgenden Parameter stimmen:
Erstens: Das nachweislich sehr hohe Potenzial an Sonnen- und Windenergie muss in hohem Masse ausgeschöpft werden. Je mehr Energie zur Verfügung steht, desto weniger stochastisch, was heisst weniger zufällig, steht sie an. Die Erneuerbaren aus Wind und Sonne werden also berechenbar. Wetterabhängig, also langfristig nicht berechenbar, fallen nur die dadurch erzeugten Überschüsse an.
Zweitens: Die Überschüsse müssen gespeichert werden, damit sie in Zeiten, wo weniger Energie zur Verfügung steht, genutzt werden können. Die Speicherung elektrischer Energie führt in grossen Mengen über die Umwandlung in eine andere Energieform wie in Lageenergie bei Wasserkraft, Wärme bei isentropen Wärmespeichern, Druck bei Kavernendruckspeichern usw. – oder eben auch in Wasserstoff über die Elektrolyse.
Wasserstoff ist also lediglich ein Energieträger, mit dem Energie gespeichert und transportiert werden kann. Die Energie dazu muss erst einmal bereitgestellt werden, behalten wir uns das im Hinterkopf.
Der grosse Vorteil von Wasserstoff ist seine universelle Nutzbarkeit und – im komprimierten Zustand – seine grosse Energiedichte. Wir haben damit die Möglichkeit, über Brennstoffzellen wieder elektrische Energie bereitzustellen. Wir können Wasserstoff aber auch umwandeln in flüssige Brennstoffe und so Erdgasersatz bereitzustellen. So können fossile Brennstoffe ersetzt werden, die in der Industrie für Prozesswärme verwendet werden. Das alles produziert kräftig Entropie, also Wärme. In diesem Zusammenhang ist nicht zu vergessen, dass die elektrische Energie zuerst produziert werden muss.
Drittens: Die verbraucherseitige Effizienzsteigerung. Es gibt ein sehr grosses Potenzial in der Effizienzsteigerung der Prozesse. Demand-side-Managementsysteme sparen unnötig verbrauchte Energie ein oder verlagern sie zeitlich.
Um diese Potenziale optimal, also mit geringem Umwandlungsverlust nutzen zu können, ist in den vergangenen Jahren die Gleichstromversorgung wieder in den Fokus gerückt. Verschiedene Forschungs- und Pilotprojekte in Deutschland und in Holland haben gezeigt, dass vor allem die Umwandlungsprozesse eine grosse Rolle spielen und Gleichstromnetze eine sinnvolle Alternative sein können.
Zu Beginn des Zeitalters der Elektrizität entbrannte eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob Gleichstrom oder Wechselstrom die bessere Lösung sei. Der als Stromkrieg bekannte Machtkampf wurde zeitweise genauso grotesk geführt wie derjenige über Photovoltaik und AKW oder Elektroauto und Verbrennungsmotorantriebe. So hatte Edison kurzerhand den elektrischen Stuhl erfunden, um die Gefährlichkeit der mit hoher Spannung übertragene Wechselstrom zu diskreditieren. Dieser Streit gewann schliesslich Westinghouse mit seinem Entwickler Tesla und führte schliesslich zum bis heute etablierten Drehstromsystem. Die Erzeugung mit Drehfeldgeneratoren, die einfache Transformation in höhere Spannungsebenen und die Asynchronmotoren für den Antrieb von Maschinen waren ausschlaggebend. Die Kosten für die AC-Stromversorgung waren damals nur halb so hoch, wie jene für die dezentrale Gleichstromversorgung mit den ineffizienten Netzen aufgrund der kleinen Verteilspannung von nur 110 Volt.
Die Drehstromtechnik ermöglichte kostengünstig Zug um Zug verschiedene Inselnetze miteinander zu verbinden, um schliesslich einen kontinentweiten Verbund zu erreichen. In den frühen 1990er-Jahren wurde der IGBT marktreif und veränderte damit die Antriebstechnik, die Netzgeräte, die USV-Technik drastisch hinsichtlich Abmessungen, Leistungsfähigkeit, Wirkungsgrade und Funktionalität. Statische Umformer, Gleichstromsteller etc. kamen auf den Markt, mit denen jede Spannung beliebig umgeformt werden kann. Seit 2012 die ABB den ersten Hochspannungsgleichstrom-Schalter in Hybridtechnologie vorgestellt hatte, können nun auch die Hochspannungsgleichstromübertragungen HGÜ schaltbar konfiguriert werden. Das ist ein grosser Fortschritt mit einer langen Entwicklungsgeschichte. Wann schliesslich ABB den ersten Halbleiter-Niederspannungs-Leistungsschalter vorstellt, ist zwar noch offen. Es dürfte aber nicht mehr lange dauern … Auch dieses Ereignis wird dann dereinst eine kleine Revolution in der Schutztechnik herbeiführen, auf die ich mich ganz besonders freue.
Die Technik ist also bereit für den nächsten Schritt in der Stromversorgungstechnik: Die Gleichstromversorgung. Die Versorgung einer Fabrik mit Gleichstrom zum Beispiel. Darauf werde ich im Kommenden eingehen und zeigen, was das mit Sektorkopplung zu tun hat:
Zuerst noch paar Schlüsseleigenschaften des Gleichstromes. Er ist vergleichsweise weniger gefährlich für den Menschen, darum sind die zulässigen Berührungsspannungen höher.
Wegen des fehlenden Nulldurchganges ist aber der Schaltlichtbogen nur sehr schwer löschbar, was für die Schaltgeräte eine höhere Anforderung bedeutet. Durch die Serieschaltung der Kontakte werden auch die Anzahl in Serie geschalteten Löschkammern und damit die resultierende Lichtbogenspannung vergrössert.
Die Lichtbogenverharrzeit ist ausserdem materialabhängig. Zu beachten ist auch, dass bei Quellen wie PV-Modulen, mit nicht linearer Kennlinie die Belastung höher sein kann. Weil die PV-Anlage oberhalb des MPP einen nahezu konstanten Strom liefert, wird die Lichtbogenspannung, die im Schaltgerät erzeugt wird, erst unterhalb des MPP unterschritten. Für die Gleichstromanwendung sind auch spezielle DC-Leistungsschalter der ABB erhältlich.
Drehstrom hat einen halb so hohen Verlust wie eine vergleichbare Wechselstromleitung mit zwei Leitern. Dafür fallen bei Gleichstrom die Verluste aufgrund nicht vorhandenen Skin- und Proximittyeffekte geringer aus.
Vierleiternutzung mit herkömmlichen Stromschienen und Kabeln, höhere Spannungsebenen, um grosse Stromdichten zu vermeiden, verbessern mit Gleichstrom die Situation.
Bei den Antrieben entfällt die Doppelumrichtung von Drehstrom auf den Gleichspannungszwischenkreis und dann über den frequenzvariablen Wechselrichter. Das hat zwei gravierende Vorteile: Zum einen entfallen etwa die Hälfte der Umrichtverluste, aber was viel wichtiger ist, es wird Rekuperation von Bremsenergie möglich. Die Bremsenergie von grossen Fertigungsrobotern ist beträchtlich, wie Studien zeigen.
Gleichstromnetze sind im Gegensatz zu AC-Netzen kapazitiv. Das bedeutet, dass die Kurzschlussströme eine sehr hohe Anstiegsgeschwindigkeit von etwa 10 bis 200 A pro Mikrosekunde haben, was sehr hohe Anforderungen an die Schutzgeräte erfordert.
Es ist Vorladung der einzelnen Lastzonen erforderlich, um ungewünschte Abschaltungen beim Einschalten zu verhindern und um Selektivität zu gewährleisten. Die Stromkreise müssen durch die angeschlossenen Geräte entladen werden.
Die Netzarten im Gleichstromnetz können wie im Wechselstrom TT, IT oder auch TN in verschiedenen Formen sein. Für Verteilstromkreise, also Hauptstromkreise mit grossen Leistungen, eignen sich besonders symmetrische Netze mit plus/minus-Aussenleiter und einem Mittelpunkt-Leiter. Dabei darf der Mittelpunkt nur an einem einzigen Ort geerdet sein, um Gleichfehlerströme über die Gebäudestruktur zu verhindern. Dabei wird die AC-Versorgung als IT-Netz ausgebildet.
Weiter sind auch EMV-Aspekte zu berücksichtigen. Teilweise sind hier noch keine Standards für Niederspannungs-DC-Netze vorhanden.
Das Netzmanagement kann dezentral mit oder ohne Regelkennlinien und auch mit oder ohne Kommunikation erfolgen. Aber auch ein zentrales Netzmanagement ist möglich. Dabei übernimmt eine zentrale Steuerung die Regelung des DC-Netzes auf eine vorgegebene Spannung.
Das Prinzipschema zeigt die Idee einer Mehrfachsektorkoppelung in industrieller Anwendung.
Eine Drehstromeinspeisung stellt die Verbindung zum Verteilnetz dar. Die Gleichrichter stellen eine hohe Niederspannung bereit, damit die Verluste tief bleiben. Das System ist modular skalierbar. Die Einspeisung kann dezentral sein.
Verschiedene Speichertechnologien je nach Einsatzdauer Super-Caps, Batterien und Wasserstoffanlagen. Der Elektrolyseur erzeugt den Wasserstoff, anschliessend wird er komprimiert und eingelagert in Flaschen oder in einem Tank. Nun besteht je nach Bedarf die Möglichkeit, diesen für Prozesswärme zu verwenden oder die Energie über die Brennstoffzellen wieder als Elektrizität nutzbar zu machen. Damit sich das lohnt, ist natürlich auch die Abwärmenutzung und eine grosse Photovoltaik erforderlich.
Für die Firmenfahrzeuge und die Autos der Kunden und Mitarbeiterinnen ist eine bidirektionale Ladeeinrichtung vorhanden. Ein prädiktives selbstlernendes Lastmanagement nutzt auch die Fahrzeugbatterien zur kurzfristigen Lastoptimierung.
Die Antriebe der Industrieprozesse sind mit rückspeisefähigen Frequenzumrichtern ausgerüstet, sodass die Bremsenergie genutzt werden kann. Je nach Anwendung wird das Datacenter mit Gleichstrom unterbrechungsfrei versorgt. Ebenso die Gebäudetechnik. Auch die Abwärme wird für das Fernwärmenetz genutzt.
Alle Komponenten sind zu- und abschaltbar. Eine Synchronisation ist nicht erforderlich. Die Schalter sind mit modernster Schutztechnik ausgerüstet.
Abschliessend zur eingangs gestellten Frage, wer nun Energie bringt und wer sie nimmt, sage ich Folgendes:
Wir haben ein zuverlässiges Verbundnetz, das uns Stabilität im Ganzen bietet. Wir haben ein Verteilnetz, das historisch zum Ausspeisen konzipiert war. Dieses Verteilnetz wird zunehmend eine ausgleichende Funktion übernehmen. Es verbindet moderne teilautonome dezentrale Prosumer-Anlagen und -Netze. Die meisten Endverbraucher, die es noch nicht sind, werden auch Erzeuger werden. Der Wandel ist Fortschritt. Den Reformstau bei den Verteilnetzen der frühen 2000er-Jahre löst sich allmählich, aber dennoch viel zu langsam auf. Man hat die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt, weil man glaubte, die alten ertragsreichen Strukturen erhalten zu können, indem man die grünen Technologien im besten Fall klein redete, ja verniedlichte und in den schlimmsten Fällen als aufkommenden Kollektivismus wirtschaftsvernichtenden Kommunismus abtat.
Aber ich bin zuversichtlich, denn eine neue Generation von Ingenieuren und Führungskräften ist am Werk; mit Weitblick und dem Wissen, dass auf etwas Gutes immer auch etwas noch Besseres kommt.
Referat gehalten am 9. September 2022 in Locarno.