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Gänse erobern die Leittechnik

Seit bald 20 Jahren gilt die ursprünglich für Unterwerke vorgesehenen Norm zur Leittechnik von elektrischen Anlagen aller Spannungsebenen der Energieverteilung. Inzwischen ist sie weit verbreitet in intelligenten Ortsnetzstationen, aber auch in privaten Industrienetzen. Warum nicht in der Niederspannung?

Short

Die Leittechniknorm IEC 61850 ist langjährig bewährt in der Hoch- und Mittelspannungstechnik. In der Niederspannungstechnik vollzieht sich derzeit ein Technologiewandel bei den Leistungsschaltern und den darin eingebauten Schutzgeräten. Diese sind zunehmend kommunikationsfähig, können als sogenannte IEDs in die Leittechnik direkt eingebunden werden. Sie setzen Anlageereignisse, sog. GOOSE, über das Netzwerk ab. Diese werden von anderen IEDs oder von der Leitebene abonniert. Das bietet die Chance, über das standardisierte Protokoll IEC 61850 eine herstellerunabhängige Leittechnik für hochverfügbare Stromversorgungen durchgängig über alle Spannungsebenen aufzubauen.

Der Artikel wurde in ET04/21 veröffentlicht und hier leicht editiert dargestellt.


Die Schalterhersteller bieten nun auch für die Niederspannungsebene die direkte Anbindung an die RTU und von dort an die Leitwarte an. Die Leistungsschalter und andere Komponenten werden direkt über den offenen normgerechten Standard IEC 61850 hoch zuverlässig fernsignalisiert und ferngesteuert. In der Gebäudetechnik ist das durchgängige Protokoll nach IEC 61850 noch weitgehend unbekannt bzw. die Berührungsängste mit der neuen Technik überschatten den Willen, diese anzuwenden. Bis anhin werden selbst in Hightech-Anwendungen wie Rechenzentren die Signalübermittlungen der Starkstromanlagen als binäre Signale in der Form von fehleranfälligen Parallelverdrahtungen übermittelt wie anno 1980 und noch früher. Damals kamen in der breiten Anwendung die ersten speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) auf, welche die Relaislogik allmählich verdrängte. Die neue Technik ist vergleichsweise abstrakt und entsprechend waren auch damals die Berührungsängste mit der neuen Technik gross: Dreist wurden die Bauherren gefragt, ob sie die neue Technik wünschen oder ob sie lieber wollen, dass es funktioniert. Nun, 40 Jahre später, wird es definitiv Zeit, den letzten Digitalisierungsschritt in der Elektroanlagentechnik zu vollziehen. Alle Welt redet von der Digitalisierung, von Augmented Reality (AR) und sogar von Virtual Reality (VR) und holt sich gleichzeitig die Statusmeldungen der Schaltanlagen über binäre Schaltkontakte oder allenfalls über proprietäre Bussysteme ab. Das passt doch irgendwie nicht. Grund genug hier diese umfassende Norm kurz vorzustellen.

Mehr als ein Datenkabelanschluss

Die Norm ist viel mehr als bloss ein Datenkabelanschluss, ein Modbus oder irgend anderer neuer Übertragungsstandard mit seinen vielen Varianten und proprietär aufgesetzten Lösungen. Nein, IEC 61850 ist viel mehr: Er umfasst den gesamten OSI-Stack (siehe Abb. 1) vom physischen Layer bis ganz hinauf zum Anwendungslayer und ist somit eine Norm für die Kommunikation, die Datenmodelle und die Darstellung und Verarbeitung. Die Daten werden in Echtzeit verarbeitet, was die Protokollierung in korrekter Zeitreihung im Millisekundenbereich ermöglicht. Für hochverfügbare Stromversorgungssysteme ist das ausserordentlich wichtig. Dennoch oder gerade deswegen ist die Leittechnik nach 61850 deutlich robuster wie eine in die heterogene Gebäudeautomationstechnik eingepflanzte Leittechnik mit allen ihren bekannten Tücken. Dennoch kann die Starkstromschutz- und Leittechnik nach IEC 61850 sinnvoll in eine Gebäudeautomationsumgebung eingebunden werden.

Abb. 1 ISO/OSI-Stack für IEC 61850

Die Inbetriebsetzung wird wesentlich vereinfacht, weil die Hardwareprüfung und die funktionale Inbetriebsetzung strikt getrennt sind. Sobald der Layer 1 (gesamte Hardware wie Steckverbindungen etc.) in Ordnung und abgenommen ist, braucht der Elektriker nicht mehr bereitzustehen. Denn die Verkabelung erfolgt über eine gewöhnliche Ethernetinfrastruktur IEEE 802.X, welche wie jede andere Netzwerkinfrastruktur installiert und geprüft werden kann. Das spart Zeit und damit viel Kosten. Funktion und Verkabelung sind dann wie in der IT vollständig getrennt.

Angst vor Hackerangriffen?

Anschliessend wird die Kommunikation bis Layer 3 und 4 (TCP/IP) eingerichtet, getestet und geprüft. In diesem Bereich ist auch die Netzwerksicherheit ein wichtiger Aspekt. Wer hier skeptisch ist und denkt, das sei für eine hochverfügbare Stromversorgung nicht geeignet wegen Hacker angriffen, dem sei in Erinnerung gerufen, dass bereit heute wichtige Infrastrukturen in der Hochspannung über diese Technik vernetzt sind. Wenn man vor Hacker Angst hat, sollte man besser keine Rechenzentren bauen und betreiben. Ausserdem, die Parallelverdrahtung kennt überhaupt keine Netzwerksicherheit ausser vielleicht ein abschliessbarer Schrank.

Sobald die Kommunikation steht, können die Intelligent Electronic Devices (IED, z.B. Schutzgeräte und andere Komponenten) über XMPP (früher Jabber) ihre Daten absetzen. XMPP war ursprünglich als Multiuser-Chatprotokoll entstanden. Es nutzt XML als Auszeichnungssprache. Diese ist in der Struktur maschinell prüfbar und ist sehr robust, überschaubar und einfach editierbar. IEC 61850 ist offen für zukünftige Kommunikationsprofile. Denn das Datenmodell beschreibt die Funktionen unabhängig von der Hard- und Software der Kommunikationstechnik. So kann als Kommunikationsystem eine Standardtechnologie verwendet werden.

GOOSE

Die IED setzen sogenannte GOOSE (Generic Object Oriented Substation Events) ab. Diese Anlagenereignisse können gegenüber früheren signalorientierter Standards wie 60870-5-101/103 analoge und digitale Signale übertragen. Zeitkritische Schutzereignisse wie Schalterauslösungen werden aufgrund ihrer Zeitstempel korrekt chronologisch gereiht werden. Die Information wird pauschal an alle Kommunikationspartner unabhängig von der Relevanz verteilt (Multicast). Die Empfänger abonnieren als sogenannte Subscriber die für sie relevanten Informationen.

Eine weitere wichtige Eigenschaft ist die Trennung zwischen Information (Daten) und Kommunikation. Das sogenannte Mapping macht hier die Verbindung zwischen dem Datenmodell und dem ISO/OSI-Stack für die Kommunikation. Das bietet den Vorteil, dass es keine feste Technologiebindung gibt und eine grösstmögliche Unabhängigkeit gegenüber den Lieferanten möglich ist. Technologiesprünge in der Kommunikation können genutzt werden, ohne dass am Datenmodell etwas geändert werden muss. Nur das Mapping muss angepasst werden. Umgekehrt kann die Schutztechnik erneuert werden, ohne dass das Netzwerk angepasst werden muss. Darüber hinaus wird die Performance, die Zuverlässigkeit, die Funktionsvielfalt und die Lebensdauer gegenüber konventionellen Lösungen besser und die Wartungskosten und der Änderungsaufwand werden dabei verringert.

Proprietäre Systeme

Die Schalterhersteller bieten auch proprietäre Kommunikationen, zum Beispiel über die zwar standardisierten Kommunikationsprotokolle und Schnittstellen Modbus RTU oder TCP an, die einen ähnlichen Funktionsumfang gewährleisten und ebenfalls Netzwerktechniken nutzen. Da Modbus und andere Busprotokolle typischerweise in den Layern 1 bis 4 definiert sind, wird hier eine produktspezifische Anwenderebene gelegt, welche nicht offen und wenn überhaupt nur eingeschränkt mit anderen Produkten kombinierbar ist. Das hat triftige Nachteile hinsichtlich Kosten und Investitionsschutz für den Bauherrn. Daher sollte aus Sicht des Investors und des Betreibers unbedingt auf die offene IEC 61850 Plattform bestanden werden.

Die Verbreitung von IEC 61850 ist weltweit riesig, die Anwendungen darauf und die bereits vorhandenen IEDs und Systeme sind so umfassend, dass kein anderes System nur annähernd einholen könnte. Alles kann ein IED im Sinne von IEC 61850 sein: Eine USV-Anlage, eine Notstromanlage, eine PV-Anlage, ein Kühlsystem und andere Hilfsbetriebe, aber auch ein RONT1 oder eine intelligente Drosselspule oder ein Aktivfilter können direkt eingebunden werden genauso wie die Schutzgeräte und Leistungsschalter es vielfach bereits können.

Abb. 2 Generisches Prinzip

Fazit

Die Zeit ist reif, dass sich die Fachleute der Gebäudeautomation, aber auch die Elektroplaner mit dieser Technik befassen und nicht einfach in der Strömung der grossen Lieferanten mitschwimmen, denn allzu leicht könnte man hier in einen Strudel kommen und dabei unter- und vergessen gehen. Denn in einem solchen proprietären Szenario braucht es die Planer nicht mehr. Anders bei der Realisierung einer produktunabhängigen Leittechnik nach IEC 61850: Die Leitebene kann ein anderes Fabrikat wie die Schutztechnik sei. Mit Blick in die Entwürfe zukünftiger Normen ist denkbar, dass schon bald, wie in der Hochspannung üblich, die Schutzgeräte getrennt von den Schaltgeräten angeboten werden. Dann kann das Schutzgerät vom Lieferanten A und der Leistungsschalter vom Lieferanten B kommen.

Quellen und Abkürzungen

Bild- und Grafiknachweis:
Abb. 1 und 2: Markus Gehrig
Titelbild: Gans mit Freiluftschaltanlage im Hintergrund (Quelle RF123).


Glossar und Abkürzungen

ASN.1 = Abstract Syntax Notation One (ASN.1)
BER = Basic Encoding Rules
GOOSE = Generic Object Oriented Substation Event. Das generische Anlagenereignis ist eine echtzeitfähige Gerätesteuerung über Ethernet. Es ermöglicht die Übertragung von Zustandsänderungen von Schaltgeräten über Ethernet und Schaltersteuerung über das Netzwerk.
SV = Sampled Value (Messdaten, abgetasteter Wert)
IED = Intelligent Electronic Device (z.B. Schutzgerät in einem Leistungsschalter)
MMS = Manufacturing Message Specification (ISO 9506) (Zur Übertragung von Echtzeit-Prozessdaten und Überwachungskontrollinformationen zwischen vernetzten Geräten)
ACSI = Abstract Communication Service Interface (Eine virtuelle Schnittstelle zu einem IED, die abstrakte Kommunikationsdienste bereitstellt, z.B. Verbindung, Variablenzugriff, unaufgeforderte Datenübertragung, Gerätesteuerung und Dateiübertragungsdienste, unabhängig vom tatsächlichen Kommunikationsstapel und den verwendeten Profilen.)
Schutzgerät = Das Schutzgerät ist ein im Schalter eingebautes Modul, welches den Leistungsschalter ansteuert und die Schutzauslösung berechnet. Es besteht im wesentlichen aus einem Microprozessor, einer Anzeige/Bedieneinheit, Messdatenakquisition und der Kommunikationsschnittstelle
TCP = Transmission Control Protocol
IP = Internetprotocol, IPSec = IP Security (verschlüsselt)
MAC = Media Access Control
RTU = Remote Terminal Unit (Fernbedienterminal)
OSI = Referenzmodell für die Netzwerktechnologie (en: Open Systems Interconnection model) und ist ein ISO Standard.


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